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Warum es immer noch Rassismus gibt, obwohl fast niemand Rassist_in sein will

Politik und Medien, Polizei und Behörden, Kirchen und Gewerkschaften, sie alle predigen ununterbrochen Respekt, Toleranz und Integration. Und trotzdem ist rassistische Diskriminierung Alltag. Und trotzdem werden in Deutschland und Europa tagein tagaus Menschen wegen ihres Aussehens oder wegen ihrer vermeintlichen Herkunft beargwöhnt, sortiert, benachteiligt und ausgegrenzt – in der Öffentlichkeit, in Schule und Uni, bei der Suche nach einer Wohnung oder einem Arbeitsplatz, am Wochenende beim Feiern, durch rassistische Polizeikontrollen und durch Schikanen der staatlichen Ausländerbehörde. Rassismus ist offenbar ein Denkmuster, das immer wieder durchschlägt.

„Hier“ und „dort“
Der moderne Rassismus hat eine lange Vorgeschichte: Schon im antiken Griechenland wurden Auswärtige als „Barbaren“ bezeichnet. Das bedeutete wörtlich „Stammler“ oder „Stotterer“ und meinte alle, die nicht oder nur schlecht Griechisch sprechen konnten. Durch diese Abgrenzung wurde ein politischer und kultureller Raum und eine Gemeinschaft definiert und als überlegen dargestellt. Damit waren dann auch im Innern besondere politische und kulturelle Pflichten verbunden. Ausgrenzung bedeutet eben immer auch Kontrolle und Zurichtung derer die dazugehören. Auf ähnliche Weise funktioniert das immer noch: Häufig werden z.B. islamisch geprägte Gesellschaften als rückständig beschrieben. Das christlich geprägte Europa und die USA inszenieren sich dem gegenüber als Hort von Aufklärung, Demokratie und Menschenrechten. Beispiele für diese Gegenüberstellung sind viele in Umlauf: „Dort“ – wo auch immer – religiös und männlich dominierte Gemeinschaften mit Todesstrafe für Ehebruch und Homosexualität; „hier“ dagegen die volle rechtliche Gleichstellung der Geschlechter und Lebensentwürfe, bis hin zur Homo-Ehe. Absurderweise wird das von Konservativen erzählt, obwohl die sich immer mit Händen und Füßen gegen diese hart erkämpften Verbesserungen gewehrt haben.

„Wir“ gegen „die“
Dieses Bild vom unterstellten „Kampf der Kulturen“ ist so einprägsam und für Europäer_innen auch so gefällig, dass selbst viele links und antirassistisch eingestellte Menschen daran glauben. Doch die meisten dieser Zuschreibungen verkennen die tatsächlichen politischen und sozialen Spannungen „hier“ und „dort“. Sie zeichnen ein vereinheitlichtes Bild von „uns“ und „denen“ und blenden Unterschiede innerhalb dieser Gruppen aus. Außerdem ignorieren sie den Zusammenhang zwischen der hiesigen Demokratie und den autoritären Regimen anderswo. Hat im Kalten Krieg nicht der Westen mit Gewalt jeden Versuch ehemaliger Kolonien sabotiert, einen demokratischen Sozialismus aufzubauen?! Hat nicht der Westen die autoritären Eliten eingesetzt und durchgefüttert, gegen die der politische Islam, oftmals ebenfalls wieder vom Westen finanziert, als Widerstandsbewegung entstanden ist?! Gibt es nicht auch im Westen ständig „Ehrenmorde“, nur dass man sie hier „Eifersuchtsdrama“ nennt?!

Eine einfache Erklärung…
Die oben genannten Beispiele illustrieren eine zentrale Funktion von Rassismus: Er bringt die komplizierte Welt auf einen einfachen Nenner. Eigenes und vermeintlich Fremdes werden als grundsätzliche Gegensätze beschrieben. Die eigene Gesellschaft erscheint als moralisch überlegen, ihre Politik als gerechtfertigt. Um das zu erklären, genügt es nicht zu sagen, Rassismus sei ein bloßes „Konstrukt“. Denn das erklärt nicht, wie er in die Welt kam und warum er bis heute nicht verschwunden ist. Die entscheidende Frage ist: Warum meinen so viele, dass dieses Konstrukt ihnen schlüssig die Welt erklären könnte?

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts behaupteten europäische Wissenschaftler, dass es unterschiedliche Menschenrassen geben würde und diese Gruppen unterschiedlich viel wert seien. So behauptete z.B. Kant: „Die Menschheit ist in ihrer größten Vollkommenheit in der Rasse der Weißen.“ Damit wurde die plakative Parole aus der Biologie vom „Überleben des Stärksten“ auf soziale Prozesse übertragen. Warum es reiche und arme, einflussreiche und beherrschte Menschen gab, wurde einfach zu deren Natur erklärt. Damit wurde Ungerechtigkeit gerechtfertigt und als angeblich unveränderbar dargestellt. Die gesellschaftlich Ursachen von Ungleichheit wurden auf diese Weise ausgeblendet.
Diese Erklärung unterstellte auch: „Menschen aus Afrika“ gehe es wirtschaftlich schlechter, weil sie weniger begabt seien und nicht, weil im Kolonialismus ganze Weltregionen von anderen gewaltsam unterdrückt und ausgebeutet wurden. Offensichtlich also völliger Blödsinn! Eine solche Begründung entsprach aber den Bedürfnissen von Menschen und Gesellschaften, die durch die Schocks des kapitalistischen Alltags und seiner wiederkehrenden Krisen in ständiger Angst lebten. Denn es begründete den Anspruch von Zugehörigkeit und Überlegenheit mit ihrer vermeintlichen Natur – ganz unabhängig von wirtschaftlichen Konjunkturen. „Ich bin von Natur aus besser, allein weil ich deutsch oder europäisch bin“. Es rechtfertigte für die Rassisten zugleich die Brutalität, mit der die eigene Herrschaft politisch, militärisch und ökonomisch gegen den Rest der Welt durchgesetzt wurde.

Was im weltweiten Maßstab als Erklärungsmuster für globale Ungleichheit herhalten muss, wird in der Migrationsgesellschaft auf Deutschland übertragen: Nationalismus behauptet ja erst einmal, dass alle in einem Boot sitzen: Du bist Deutschland. In gewisser Weise stimmt das sogar: Alle sind zumindest im Prinzip gleichermaßen Wettbewerber_innen in der kapitalistischen Konkurrenz um Arbeit, Wohnungen, Profit, usw. Dadurch sind tatsächlich alle Bewohner_innen eines Territoriums von Konjunkturschwankungen betroffen: Läuft „die deutsche Wirtschaft“ schlecht, bedeutet das in der Tat für viele Menschen, dass sie ihre Arbeit verlieren oder unter noch schlechteren Bedingungen weiterarbeiten müssen. Diese ständige Unsicherheit schwebt als Drohung über allen Menschen. Gegen diese Unwägbarkeiten des Marktes, die jeden Menschen in ständiger Unsicherheit lassen, suchen Menschen vermeintlichen Schutz in rassistischen Deutungsmustern: Sie behaupten, im Zweifelsfall mehr Anspruch auf halbwegs erträgliche Arbeitsverhältnisse zu haben, allein, weil sie sich als „wirkliche Deutsche“ verstehen.
Diese Vorrechte versuchen sie gegen Menschen zu verteidigen, die in ihren Augen weniger dazugehören als sie. Sie stellen sich über diese Menschen und erheben so den Anspruch, unabhängig vom jeweiligen Pass oder ökonomischen Konjunkturen zur angeblichen „Volksgemeinschaft“ zu gehören.

Integrier Dich doch selber!
Inzwischen drückt sich Rassismus vor allem über Ideologien angeblicher „kultureller“ Verschiedenheit und Überlegenheit aus. Rassismus funktioniert auch ohne „Rassen“. Die Kulturalisierung oder Ethnisierung rassistischer Ausgrenzung reagiert nicht nur darauf, dass die Einteilung von Menschen in Rassen offensichtlicher Humbug ist. Sie ist auch eine Modernisierung des Rassismus unter den Bedingungen weltweiter Migration. Über das Konzept „Kultur“ lassen sich Ein- und Ausgrenzung viel flexibler vornehmen. Ein Musterbeispiel für diese modernisierte Form des Rassismus ist die anhaltende sogenannte Integrationsdebatte in Deutschland. Sie unterstellt, dass die oft problematische soziale Lage von Menschen mit türkischem oder arabischem Migrationshintergrund vor allem auf deren kulturelle Prägung durch muslimische Religion und islamische Kultur zurückzuführen ist. So werden die schwerwiegenden sozialen Folgen jahrzehntelanger Ausgrenzung von Arbeitsmigrant_innen und ihren Nachkommen den Betroffenen selbst zugeschrieben und als Ausdruck kultureller Defizite gegenüber der Mehrheitsgesellschaft gedeutet. Eine Ungleichheit, die durch systematische Benachteiligung gesellschaftlich erzeugt wurde, wird damit gerechtfertigt und den Benachteiligten als Eigenschaft angehängt.
Rassismus entsteht in der kapitalistischen Gesellschaft immer wieder neu, weil die Menschen sich damit die Ungleichheit und Ungerechtigkeit, die immer wieder neu erzeugt wird, erklären. Deshalb ist er auch nur zusammen mit ihr zu überwinden. Leider heißt das nicht, dass Rassismus von selbst verschwinden wird, wenn der Kapitalismus abgeschafft ist. Aber die Voraussetzung dafür, dass das möglich ist, wäre endlich geschaffen.

Zum Weitersehen und -lesen:
Text vom Bündnis UmsGanze:
„Vielen Dank für die Blumen – gegen Integration und Ausgrenzung“