Wie wir alle zu guten Staatsbürger_innen werden…

…oder wieviel Deutschland im Unterricht steckt.

Beobachtet man eine politische Diskussionsrunde im Fernsehen, taucht mit hoher Wahrscheinlichkeit bereits nach wenigen Minuten der erste Brocken Stumpfsinn auf. „Die faulen Arbeitslosen sollen sich gefälligst zusammenreißen“ oder „die Flüchtlinge wollen uns nur ausnutzen“ – irgend so ein Klassiker kommt immer. Und doch fragt man sich immer wieder: Warum denken diese Menschen so? Die Menschen denken so, weil sie es so gelernt haben. Meinungen (auch unsere) fallen ja nicht vom Himmel. Meinungen werden gebildet! Zum Beispiel in unseren Familien, in unseren Freundeskreisen, auf der Arbeit – und natürlich in der Schule. Dass dort nicht nur Kurvendiskussion und das Periodensystem, sondern auch Werte gepredigt werden, ist keine geheime Agenda, sondern ausdrückliches Ziel.

Gelernte Staatsgläubigkeit oder: Verfassungen auswendig lernen ist ja auch irgendwie genug
Dass Fächer wie Gesellschaftskunde unsere Gesellschaft erläutern, ist logisch. Problematisch ist daran jedoch, dass wir die meiste Zeit nur lernen, wie dieses System funktioniert: eine Bewerbung schreiben, ein Konto eröffnen, wählen gehen, keine Polizist_innen ärgern… Es geht um die Frage, wie das Alles am Besten umgesetzt wird – und nicht etwa darum, ob das alles überhaupt wichtig und richtig ist. Natürlich darf manchmal darüber diskutiert werden, wie unsozial das neueste Gesetz zum Sozialabbau ist, wie sinnvoll die Legalisierung von Cannabis wäre oder was die Vorteile eines Wahlrechts für 16-Jährige sind.
Die Grundlagen unserer Gesellschaft werden allerdings nicht angerührt, die Kritik an den Zuständen muss „im Rahmen bleiben“. Wir werden in unsere Gesellschaft eingeführt indem wir lernen, sie ordentlich zu begründen und zu beschreiben. Wir lernen, gute Staatsbürger_innen zu sein. Es ist also kein Wunder, dass unser gegenwärtiges System als gut begründet und alternativlos gilt. Dass die Menschen auch in der Lage wären, eine komplett andere Gesellschaft einzurichten, an der sie direkt mitbestimmen, in der es keinen Hunger und weniger Ungerechtigkeiten gibt – das spielt weder in Schule noch in den politischen Diskussionsrunden im Fernsehen eine Rolle. Denn wie soll man auch grundlegend kritisch denken, wenn es einem nie beigebracht wird?
Diese Art der Staatsbürger_innenlehre ergibt im gegenwärtigen System durchaus Sinn: In einer Gesellschaft, in der politische Partizipation im Wesentlichen darin besteht, alle vier Jahre mal
ein Kreuzchen machen zu dürfen, reicht es, wenn die Staatsbürger_innen in der Zwischenzeit brav und unauffällig bleiben, sich Gedanken über politische Detailfragen (PKW-Maut ja oder
nein? Spitzensteuersatz 40% oder 45%?) machen und vielleicht ab und zu mal über die Nutzung eines ehemaligen Flughafens abstimmen. Eine Gesellschaft, die auf wirkliche politische Selbstbestimmung setzt, müsste in der Schule ganz anders lehren, politische Strukturen grundsätzlich zu hinterfragen und mitzugestalten. Davon sind wir aber weit entfernt.

Von polyamorösen Sachaufgaben und einer anderen Geschichtserzählung
Ob Schönheitsideale, Moralvorstellungen oder Feindbilder: Auch die Wertvorstellungen, die nicht ausdrücklich, sondern indirekt in der Schule vermittelt werden, sind sehr einseitig. Zum
Beispiel in der Art und Weise wie über Geschlecht in Schulbüchern geredet wird. Ob in einer Geschichte im Deutschunterricht oder wenn es in Biologie um Geschlecht und Sexualität
geht: Schwule und lesbische Paare treten hier selten bis nie auf, genauso wenig wie nichtmonogame Beziehungen oder Intersexualität thematisiert werden. Darauf, dass man mal in einer Matheaufgabe ausrechnen muss, wie viel Geld die kleine Judith und ihre beiden Papas Jan und Paul für ihre Wohnung bezahlen, wird man auch lange warten.
Und es geht noch weiter: Eine Studie über Schulbücher der Fächer Deutsch, Geschichte und Mathe der letzten 30 Jahre kam zu dem Ergebnis, dass dort Männer und Frauen fast immer in
stereotypen Rollen auftauchen. Männer werden da meist am Arbeiten oder im Wettkampf gezeigt, Frauen sieht man hingegen fast nur bei ihrer Familie oder im Haushalt. Die alleinige
Darstellung heterosexueller Beziehungen und stereotyper Rollenverteilung markiert nur diese als „normal“ und alles Andere als „abartig“ oder „unnormal“. So brennt sich bei Schüler_innen
eine Vorstellung der Normalität ein, mit der viele Menschen ausgeschlossen werden und eine emanzipierte Gesellschaft in weite Ferne rückt. Auch abseits von Geschlecht gibt es etliche Beispiele, wie konservative Grundannahmen indirekt in Schulbüchern weiterexistieren und so Sexismus und Rassismus immer wieder auf‘s Neueherstellen. Das zeigt das Ergebnis einer Studie über die Darstellung Afrikas in deutschen Schulbüchern: Zwar wird oft von „einer Welt“ und „gemeinsam für Afrika“ gesprochen – in der Behandlung des Kontinents wird aber nur auf seine Schwächen eingegangen und Afrikaner_innen tauchen fast ausschließlich als passive Leidende auf, denen von deutschen Hilfsorganisationen geholfen werden muss. Dies wiederholt ein rassistisches Stereotyp, in dem Schwarze unfähig, unzivilisiert und auf die Hilfe von Weißen angewiesen sind. Dass die Armut in Afrika auch das Ergebnis von historischem Kolonialismus und aktuellen Handelsbeziehungen des Westens ist, wird selten erwähnt – ebenso wenig wie die Geschichte Afrikas vor der Kolonisation oder die afrikanischen Befreiungskämpfe. Als Schüler_in mit solchen Lehrmitteln muss man also ganz schön weit selbst denken, um über diese Tellerränder hinaus zu kommen.

Die Schule verändern heißt die Gesellschaft zu verändern
Die Art und Weise, wie Rollenbilder und politische Systeme in der Schule dargestellt werden, verändert sich natürlich. Schulbücher zeigen heute nicht mehr die gleichen Rollenbilder wie zur NS-Zeit. Seitdem wurden sehr viele Verbesserungen erkämpft.
So hat sich die Frauenbewegung erfolgreich gegen allzu deutlichen Sexismus in Schulbüchern durchgesetzt. Das, was wir heute in der Schule vermittelt bekommen, spiegelt ungefähr die
aktuellen Annahmen unserer Gesellschaft wieder. Aber das ist immer noch schlimm genug! Denn gerade als Spiegel der Normalität übt die Schule eine beispiellose Macht aus.
In der prägenden Zeit von Kindheit und Jugend ist sie die wichtigste Bildungsstätte – was wir hier als normal und gut gezeigt bekommen, prägt uns ein Leben lang. Dazu gehören auch Rassismus, Sexismus und Staatsgläubigkeit: Denkformen, die in unserer Gesellschaft immer noch normal sind und in der Schule gar nicht mehr auffallen. Deshalb ist es um so wichtiger, dass wir diese Normalität immer wieder hinterfragen! Wenn Afrikaner_innen grundsätzlich als hilflos, Liebe grundsätzlich als heterosexuell und der Kapitalismus grundsätzlich als alternativlos dargestellt werden – dann sagen wir diesem Gelaber den Kampf an. Rassismus, Sexismus und Staatsgläubigkeit mögen weit verbreitet sein – richtig sind sie deshalb noch lange nicht! Deshalb denken wir selbst und machen den Mund auf. Denn anstatt stundenlang die Finessen der Parteiendemokratie zu büffeln, brauchen wir Räume für grundsätzliche Kritik – und Platz, um wirklich partizipative Politik zu lernen!

Zum Weiterlesen:
Freerk Huisken: „Erziehung im Kapitalismus“ erschienen im VSA Verlag.

Melanie Bittner: „Geschlechterkonstruktionen und die Darstellung von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans* und Inter* (LSBTI) in Schulbüchern”
Download hier

Elina Marmer: „Rassismus in deutschen Schulbüchern am Beispiel von Afrikabildern” in der Zeitschrift ZEP Vol. 2/2013, S. 25-31

Dissens e.V. – Geschlechterreflektierte Arbeit mit Jungen an der Schule